Als erster Zeuge wurde am 29. Hauptverhandlungstag ab 9.30 Uhr der 41-jährige Gebäudereiniger Pierre W. aus Düsseldorf befragt. Hintergrund seiner Vorladung war, dass die Identität eines möglicherweise wichtigen Zeugen mit dem Vornamen Pierre bis heute unklar ist. Der bis heute Unbekannte hatte unter diesem Namen 2000, u. a. unmittelbar nach dem Anschlag, Kontakt zu Ralf S. und dessen damaliger Lebensgefährtin (siehe hierzu die Anmerkungen der Wehrhahn-Prozess-Blog-Redaktion in Bericht über den 13. Hauptverhandlungstag vom 4. April 2018).
Der nun im Gericht als Zeuge geladene Pierre W. bekundete, nicht zu wissen, um was es im laufenden Strafprozess gehen würde. Den Angeklagten würde er nicht kennen und habe ihn noch nie gesehen. Er habe bis Sommer 2000 auf der Ackerstraße 86 gewohnt. Zum Zeitpunkt des Anschlags sei er „mitten im Umzug“ gewesen. Die Tätowiererin Sabine L. und deren damaligen Ehemann habe er gekannt, das seien seine unmittelbaren Nachbarn gewesen. Er habe sich damals mehrfach im Tattoo-Studio auf der Birkenstraße, in dem Sabine L. gearbeitet habe, tätowieren lassen. Über ein Tattoo-Studio auf der Kölner Straße habe er keine Kenntnis. Sein Kontakt zu Sabine L. sei nach deren Trennung von ihrem Ehemann abgerissen. Einen Patrick E. [Anmerkung: Freund von Sabine L. im Jahr 2000, siehe u.a. 7. Prozesstag) würde er nicht kennen. Genauso kenne er einen Rechtsanwalt mit dem Namen Spormann. Einen Hund habe er nie gehabt. Weitere Personen aus seinem Umfeld mit dem Namen Pierre kenne er nicht. Nach dem Einspielen von Auszügen des Mitschnitts eines Telefonats zwischen dem gesuchten „Pierre“ und Doreen Sch. äußerte Pierre W., dass er definitiv nicht der Anrufer gewesen sei, das sei nicht seine Stimme. Nach knapp zehn Minuten Befragung wurde der Zeuge entlassen.
Da die nächste, für 10.00 Uhr geladene Zeugin um 9.40 Uhr noch nicht da war, nutzten die Kammer und der Nebenklagevertreter Rechtsanwalt Tobias Degener die Zeit für
- die Verlesung der den Angeklagten betreffenden Eintragungen im Bundeszentralregister durch den Vorsitzenden. Unter den zahlreichen Eintragungen befanden sich hauptsächlich Betrugsdelikte, Beleidigungsdelikte und Delikte im Zusammenhang mit dem Führen eines Kfz. Hinzu kommen Nötigungsdelikte, davon wurde eine gemeinschaftlich [Anmerkung: mit Herbert L.] begangene Nötigung mit einer Haftstrafe von einem Jahr auf Bewährung geahndet.
- die Verteilung von Kopien seines modifizierten Antrags bezüglich einer etwaigen groben Pflichtverletzung des Verteidigers Ingo Schmitz (siehe 28. Prozesstag) durch Rechtsanwalt Tobias Degener.
Über den Antrag wird die Kammer beizeiten beraten.
Anschließend wurde die zwischenzeitlich eingetroffene Zeugin Brigitte K. (57) befragt. Die Angestellte schilderte – teilweise mit Erinnerungshilfen durch Verlesung ihrer damaligen Aussage bei der polizeilichen Vernehmung – ausführlich ihre Wahrnehmungen vom Tattag und von Ralf S., der um das Jahr 2000 herum in ihrer Nachbarschaft lebte. Aus ihren Schilderungen ergab sich, dass sie in der vierten Etage des Hauses lebte, in dem auch die Seminarräume der am 27. Juli 2000 angegriffenen Sprachschüler*innen und ein Matratzenladen angesiedelt waren – gegenüber dem Militaria-Laden des Angeklagten. Von ihrer Wohnung aus konnte sie sowohl auf den S-Bahnhof schauen – auch auf die beiden Zugänge –, als auch auf den Teil der Gerresheimer Straße zwischen Worringer Straße und Elisabethkirche. Ebenso auf die Worringer Straße und den Kreuzungsbereich Worringer Straße/Gerresheimer Straße. Der Zugang zu ihrer Wohnung befand sich auf der Gerresheimer Straße 54 gegenüber dem Militaria-Laden, der auch durch die Treppenhausfenster zu sehen war, nicht aber aus ihrer Wohnung, deren Fenster sich auf der Seite der Worringer Straße befanden. Die Sprachschule, deren Eingang wie ihr Wohnungszugang auf der Gebäudeseite in Richtung Gerresheimer Straße lag, kannte die Zeugin. Sie hatte gewusst, dass dort Unterricht stattfand, die Schüler*innen hatte sie ebenso wahrgenommen.
Die Frage, ob ihr Ralf S. vor dem Anschlag bekannt gewesen sei, bejahte Brigitte K. Sie habe ihn vom Sehen aus der Nachbarschaft gekannt und anfangs auch gegrüßt. Nachdem sein Hund bei einer Begegnung aggressiv nach ihr geschnappt habe, hätte sie den heute Angeklagten allerdings nicht mehr gegrüßt. Ralf S. habe man im Viertel „den „Sheriff“ genannt: „Alle nannten ihn so, der lief immer wie ein Soldat rum, so mit Tarnklamotten. Das war ziemlich fremd für uns. Daran wollten wir uns auch nicht gewöhnen.“ Im Militaria-Laden sei sie nie gewesen, sie habe aber mal einen Blick hinein geworfen. Darin habe es sehr chaotisch ausgesehen, weswegen ihr klar gewesen sei, dass der Laden nicht lange betrieben werden könne. Und er habe ja tatsächlich nur etwa zwei Jahre existiert. Sie habe eine große Abneigung gegen jede Form von Waffen und Gewalt. Und im Laden seien ihrer Wahrnehmung nach Waffen und Militärisches angeboten worden. Vor bzw. im räumlichen Nahbereich des Ladens hätte sich auch allerlei Neonazi-„Gesocks“ herumgetrieben – Leute, die „sich für Waffen und Bomben interessieren. Sonst hätten sie nicht davor gestanden.“ Diese Personen hätten nicht nur vor dem Laden gestanden, sondern „überall“, teilweise mit Hunden, beispielsweise an der Ecke Schützenstraße. Sie habe den Eindruck gehabt, dass diese Personen („So Aufgepumpte, in Unterhemden und tätowiert. Wir hatten Angst vor denen.“) sich immer zwischen der Wohnung von Ralf S. etwas weiter unten auf der Gerresheimer Straße – da habe sie ihn hin und wieder reingehen sehen – und dem Militaria-Laden hin und her bewegt hätten.
Am Tattag sei sie mit dem Fahrrad im Stadtteil unterwegs gewesen, um Besorgungen zu machen. Mit Erinnerungshilfe durch den Vorsitzenden erinnerte sich K. an ihre Route: vom Worringer Platz über die Ackerstraße zur Birkenstraße. Die Explosion habe sie auf der Ackerstraße gehört und nicht wirklich zuordnen können, bevor sie dort eine „Nähstube“ aufsuchte und anschließend – kurz nach dem Anschlag – über die Kreuzung Ackerstraße/Gerresheimer Straße, wo gerade Rettungs-, Sicherungs- und Tatort-Absperrungsmaßnahmen liefen, mit zwei- bis dreiminütigem Stopp zur Birkenstraße weiterzufahren, um nach einem Einkauf wieder in Richtung ihrer Wohnung zu fahren. Das, was sie im S-Bahnhof-Zugangsbereich Ackerstraße sah – insbesondere das Abtransportieren von Verletzten – erinnerte Brigitte K. erst nach Vorhalt aus ihrer polizeilichen Vernehmung. Die Verlesung ihrer damaligen, möglicherweise zwischenzeitlich verdrängten Wahrnehmung löste bei der Zeugin eine sehr emotionale Reaktion aus. Zu Protokoll gegeben hatte sie damals, dass sie „völlig geschockt“ gewesen sei.
Anschließend sei sie dann, so K. mit Erinnerungshilfe durch Vorhalte, an der Ecke Gerresheimer Straße/Worringer Straße in die dortige Druckerei gegangen, um dem ihr bekannten Inhaber ihre Eindrücke von den Verletzten des Anschlages und den Rettungsmaßnahmen zu schildern, geschockt wie sie war. Gegen 15.30 Uhr habe sie von dort aus Ralf S. durch die gläserne Eingangstürscheibe an der Telefonzelle und unter einem Baum im Kreuzungsbereich stehen sehen – zusammen mit weiteren Schaulustigen an der Absperrung. Einen Hund habe er nicht dabei gehabt. Ansonsten habe er immer seinen Hund dabei gehabt. S. habe da etwa 30 Minuten gestanden, danach habe sie ihn aus den Augen verloren. Als sie die Druckerei um 17.15 Uhr verlassen habe, habe er dort wieder gestanden, ebenso zwischen 22 Uhr und 1.30 Uhr, als sie sich auf dem Balkon aufgehalten habe, weil sie nicht habe schlafen können. Um 5.20 Uhr habe sie erneut herunter geschaut. S. sei immer oder schon wieder vor Ort gewesen und habe gerade zwei Polizeibeamt*innen an der Absperrung Kaffeebecher gereicht. Ihr sei das Bild vom „Täter, der immer zum Tatort zurück kommt“ in den Sinn gekommen. Sie habe S. dann das nächste Mal am Tag nach dem Anschlag um 19.30 Uhr, also 14 Stunden später, an der Ecke stehen sehen.
Nach der Entlassung der Zeugin Brigitte K. war dann als dritter und letzter Zeuge der gelernte Bäcker Wissam H. (36) an der Reihe, dem ein Dolmetscher zur Seite gestellt wurde. H. berichtete, derzeit in Marsberg (Hochsauerlandkreis) inhaftiert zu sein, zuvor aber zusammen mit Ralf S. in der JVA Düsseldorf eingesessen zu haben. Mit S. habe er öfter seine tägliche „Freistunde“ verbracht. Anfangs sei noch ein junger Mann namens Sven dabei gewesen, der aber Selbstmord begangen habe. Später sei ein Türke namens Can hinzugekommen. Zeitweise und unregelmäßig sei dort auch noch ein etwa 25-jähriger Deutscher gewesen. Und die letzten drei Wochen vor seiner Verlegung am 7. März 2018 noch ein Mann auf Krücken – Holger.
Ralf S. habe ihm zu dessen Haft erzählt, ihm würde vorgeworfen, für eine Explosion verantwortlich zu sein, er sei aber unschuldig. S. sei der Einzige in der JVA gewesen, der ihm geholfen habe, so H. S. sei sein Freund – und kein Nazi. S. könne schon deshalb nicht der Täter sein, da der Täter laut Aussage einer Zeugin 180 cm groß sei. Das habe er selbst in der Akte gelesen. Bei dem terroristischen Anschlag seien seines Wissens nach vier oder fünf oder sechs jüdische Menschen getötet worden, eine sehr bedauerliche Sache. Das würde Ralf S. auch so sehen.
Holger, der bei seinen Gesprächen mit S. nicht dabei gewesen sei, würde ebenfalls Terrorismus vorgeworfen. Der sei früher mal Nazi gewesen, später sei er dann Salafist bzw. Islamist geworden. Streit hätten Ralf und Holger miteinander nicht gehabt. Er selbst habe mit Holger nicht über Ralf gesprochen, nur über Alltägliches in der JVA. „Der Ralf“ habe „über seine Geschichte mit den anderen nicht reden“ wollen: „Aber mit mir, wir sind Freunde. Er war gut zu mir.“ Das habe sich auch nach seiner Verlegung nicht geändert, man stünde in Briefkontakt, erst kürzlich habe er ein T-Shirt mit Fußballmotiv von Ralf S. geschenkt bekommen.
Sauer sei S. auf niemanden gewesen, auch nicht auf den Richter und Staatsanwalt, nur darauf, „dass er im Knast war“. Im Wesentlichen hätten er und Ralf S. auch nicht über ihre Strafverfahren, sondern über ihre Zukunftspläne gesprochen. Er (H.) werde mit den Drogen aufhören und nach der Entlassung mit Ralf S. eine Security-Firma gründen. Das sei ihre gemeinsame Idee gewesen. Ebenso wie S. sei er mal beim Militär gewesen.
Auf Nachfrage des Nebenklagevertreters Rechtsanwalt Juri Rogner bezifferte der Zeuge die von Ralf S. erhaltenen Briefe auf „vier oder fünf“. Eben diese könne er gerne dem Gericht zur Verfügung stellen.
Rechtsanwalt Rogner beantragte, zur Prüfung einer möglichen Zeugenbeeinflussung die angebotenen Briefe in Augenschein zu nehmen. Andere Nebenklagevertreter und der Oberstaatsanwalt schlossen sich seinem Antrag an.
Nach der Entlassung des Zeugen, verkündete der Vorsitzende, dass man seiner Meinung nach „mit dem Programm durch“ sei. Die nächsten beiden anberaumten Prozesstermine am 22. und 28. Juni würden nicht stattfinden. Weiter ginge es am 3. Juli, entweder mit Beweisanträgen oder aber – wenn keine Anträge bis dahin vorliegen würden – mit den Schlussvorträgen. Auf Nachfrage, ob noch etwas offen sei, kündigte Oberstaatsanwalt Herrenbrück an, er werde sich noch schriftlich zum Sachverhalt Holger P. äußern. Der Vorsitzende gab bekannt, dass er noch einmal nachgefragt habe, ob Holger P. seine Meinung bezüglich der Verweigerung seiner Zeugenaussage zwischenzeitlich geändert habe. Das sei nicht der Fall, und es sei auch nicht sinnvoll, ihn wiederholt vorzuladen, um dann immer wieder neu festzustellen, dass er sich weigere, auszusagen. Dennoch würde er in Erwägung ziehen, die Zwangsmaßnahme (Haftanordnung) gegen Holger P. aufzuheben, darüber würde aber, so der Vorsitzende, später entschieden.
Am Ende des 29. Verhandlungstages erging folgender Beschluss der Kammer (sinngemäß protokolliert):
„Der Vorsitzende gibt bekannt, dass – vorbehaltlich weiterer Erkenntnisse – die Kammer die von ihr für erforderlich angesehene Beweisaufnahme für abgeschlossen hält. Der Vorsitzende gibt bekannt, dass die nächsten beiden Verhandlungstage am 22.6.2018 und 28.6.2018 aufgehoben werden sollen, damit am 3.7.2018 mit der Entgegennahme der Schlussvorträge begonnen werden kann. Als Frist für Beweisanträge wird der 3.7.2018 festgesetzt – gemäß § 244, Absatz 6, Satz 2 [‚Nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme kann der Vorsitzende eine angemessene Frist zum Stellen von Beweisanträgen bestimmen.‘].“