Der 30. Prozesstag am 9. Juli 2018
Oberstaatsanwalt Ralf Herrenbrück formulierte am 30. Hauptverhandlungstag 18 Beweisanträge, um seine Anklage zu stützen. Die meisten Anträge bezogen sich auf einen „sozialen Vorkontakt“ zwischen Ralf S. und der Opfergruppe, die Beeinflussung von Zeug*innen, die Gewaltbereitschaft, Sprengstoff- und Schweißkenntnisse von Ralf S., dessen damalige Wohnung in der Gerresheimer Straße 13, die Glaubwürdigkeit des Zeugen Andreas L. (siehe 8. Prozesstag), Ausbildungsstandards bei der Bundeswehr, die Herkunft des verwendeten TNT und des vermuteten Sprengzünders sowie Beobachtungen von Zeug*innen am Tattag zu am Geländer oder in Bäumen an der Fußgängerbrücke des S-Bahnhof Wehrhahn angebrachten Tüten, in denen sich der Sprengsatz befunden hat bzw. haben könnte. In seinem letzten Antrag formulierte Herrenbrück die Notwendigkeit, erneut den Zeugen Holger P. zu befragen, der zuvor jedwede Aussage verweigert hatte.
Die Nebenklagevertreter*innen schlossen sich den Anträgen des Oberstaatsanwalts an.
Der 31. Prozesstag am 3. Juli 2018
Am 31. Hauptverhandlungstag wurde damit begonnen, die von der Kammer genehmigten Beweisanträge der Oberstaatsanwaltschaft vom 30. Prozesstag abzuarbeiten. Unter anderem wurden fünf Personen, die damals der lokalen Neonazi-Szene nahe standen bzw. nahe gestanden haben sollen – Jörg W., Alexander V., Dennis M., Sascha B. und Marcell S. – zu Ralf S. befragt.
Jörg W. (44), kaufmännischer Angestellter aus Kaarst (Rhein-Kreis Neuss) und einst Mitbetreiber des von Düsseldorf-Flingern aus betriebenen neonazistischen „Nationalen Infotelefons Rheinland“, gab an, Ralf S. auch schon vor dem Anschlag gekannt zu haben, allerdings sei der Kontakt recht lose und unverbindlich gewesen, an konkrete Verabredungen könne er sich nicht erinnern. Ralf S. sei schlichtweg ebenso wie er in der rechten Szene unterwegs gewesen, aber nicht als Teil der im Jahr 2000 etwa zehnköpfigen „Kameradschaft Düsseldorf“. S. sei zwar „rechts“ gewesen, „aber nicht wirklich politisch überzeugt, eher so stammtischmäßig rechts“. Ob S. punktuell an Aktionen oder an Veranstaltungen teilgenommen habe, wisse er nicht mehr, das sei aber möglich.
Nach dem Anschlag, so W., sei ihm Ralf S. „ein paar Mal zufällig über den Weg gelaufen“. Zuletzt habe er ihn zufällig vor ein oder zwei Jahren in der Nähe seines (W.s) Arbeitsplatzes in Ratingen getroffen. Weitere Personen aus S.‘ damaligen Umfeld seien ihm nicht bekannt, mit Ausnahme seiner damaligen Freundin, an deren Namen er sich aber nicht erinnern könne. Auch habe er damals niemanden gekannt, der für S. gearbeitet habe. Im Militaria-Laden sei er (Jörg W.) nur wenige Male gewesen, man habe einander da mal getroffen mit einigen Leuten und vor dem Laden herum gestanden. S. habe sich damals „bestimmt aufgeregt über Ausländer“, aber nichts von einer Sprachschule gegenüber erzählt. Er könne sich auch nicht daran erinnern, mit S. nach dem 27. Juli 2000 über den Anschlag gesprochen zu haben. Dass S. versucht habe, ihn (Jörg W.) in der Nacht nach dem Anschlag telefonisch zu erreichen, habe er erst vom Polizeilichen Staatsschutz erfahren. In der Szene sei man der Auffassung gewesen, dass der Anschlag nicht von Rechten verübt worden sei. Und S. habe man den Anschlag ohnehin nicht zugetraut.
Auf Frage des Vorsitzenden gab Jörg W. an, aktuell nicht mehr „in der Szene“ aktiv zu sein, er würde aber nach wie vor in seinem damaligen „Freundeskreis“ verkehren.
Als nächster Zeuge wurde der berufslose Düsseldorfer Alexander V. (54) als Zeuge befragt. V. gab an, damals auf der Birkenstraße gewohnt zu haben, aber nichts zur „Bombe am Wehrhahn“ sagen zu können. Er habe Ralf S. nicht öfter als zwei bis drei Mal gesehen und damals eineinhalb Monate in dessen Auftrag als Wachmann gearbeitet – und hierfür bis heute keinen Lohn bekommen, weswegen er auch nach wie vor sauer auf ihn sei. Ein einziges Mal sei er auch am Militaria-Laden gewesen, aber erst „später“ [Anmerkung: gemeint war offenbar nach dem Anschlag]. Wo er S. kennengelernt habe, wisse er nicht mehr.
Auf V. folgte als Zeuge der in einer Reinigungsfirma tätige Dennis M. (39) aus Wuppertal. Er gab an, erst am 31. Oktober 2016 bei einer kurzen Befragung durch die Polizei erfahren zu haben, „dass Ralf der Täter sein soll“. Zwei Monate später habe er dann im Polizeipräsidium eine Aussage gemacht. Von einer Tatbeteiligung von S. wisse er nichts. Er selbst sei damals in der rechten Szene aktiv – im Skinhead-Outfit und zumeist in Düsseldorf-Bilk – und Kunde im Militaria-Laden gewesen. Anfangs habe er dort öfter vorbei geschaut, zumeist freitags „zum Quatschen“. Er habe aber nie vor dem Haus gegenüber dem Laden gestanden. Der Militaria-Laden sei auch kein Anlaufpunkt für die Szene gewesen. Er habe Kontakt zu S. gepflegt, sei aber nicht mit ihm befreundet gewesen. „Eine Zeitlang“ sei er an Sonntagen mit S. in Gerresheim „im Wald“ auf einem Bundeswehrgelände gewesen, „Camping machen“. Gezeltet habe man aber nicht, dafür aber mit einem Luftgewehr geschossen, sei im Schritttempo durch den Wald gelaufen oder habe am Lagerfeuer gesessen. Soldatische Übungen habe man aber nicht abgehalten.
S. habe sich ihm gegenüber zu keinem Zeitpunkt über den Anschlag geäußert. Ihm (Dennis M.) sei auch nicht erinnerlich, dass er von sich aus S. darauf angesprochen habe. Dass S. ihn damals angerufen und aufgefordert habe, nichts über ihre Waldausflüge zu erzählen, sei ihm erst nach der polizeilichen Vernehmung 2016 wieder eingefallen. Nach wie vor nicht erinnerlich sei ihm aber, dass er S. erlaubt habe, dessen Telefonanschluss auf seinen (M.s) Namen anzumelden. Er sei auch mal in der Wohnung von S. in der Gerresheimer Straße 13 gewesen. S. habe da alleine gewohnt, und es habe dort „ganz normal“ ausgesehen.
Auf Frage des Vorsitzenden gab M. an, S. habe ihm nie etwas über Handgranaten erzählt. S. habe aber mal „beim Camping“ eine Rauchhandgranate gefunden, zumindest habe S. berichtet, dass er sie gefunden habe. Diese Rauchhandgranate – in Konservendosenform und grün – habe nämlich nicht so ausgesehen, als ob sie schon länger im Gelände gelegen habe.
Als nächster Zeuge folgte der berufslose Sascha B. (39) aus Düsseldorf. Er gab an, damals in der rechten Szene unterwegs gewesen zu sein, gemeinsam mit Sven Sch. (siehe 7. Prozesstag) in Düsseldorf-Flingern gewohnt zu haben, S. von früher her zu kennen und „so um 2000“ einen einzigen Tag für ihn gearbeitet zu haben. Möglicherweise habe er S. über Sven Sch. kennengelernt. Auch Dennis M. würde er kennen. Auch sei er mal im Militaria-Laden gewesen, um seinen Lohn abzuholen. Er habe sich aber anstelle des Lohns nur etwas aus dem Sortiment des Ladens mitnehmen dürfen. Er habe nie vor dem Haus gegenüber dem Laden gestanden.
Als letzter Zeuge in der Reihe des ehemaligen Umfelds des Angeklagten wurde der 41-jährige Maler Marcell S. aus Düsseldorf befragt, teilweise begleitet durch das Verlesen seiner Aussagen aus polizeilichen Vernehmungen.
Er sei damals in der rechten Szene aktiv gewesen und habe S. im Militaria-Laden kennengelernt, so Marcell S. Dort sei er mehrmals Kunde gewesen, habe aber ansonsten wenig mit S. zu tun gehabt. Nach dem Anschlag habe er ihn nie wieder gesehen.
Angesprochen auf seine in einer polizeilichen Vernehmung formulierte Charakterisierung von S. als „Psychopath“, berichtete Marcell S., dass Ralf S. „Stolperfallen im Laden“ installiert habe. Alles, was nicht deutsch gewesen sei, sei für S. „Dreck“ gewesen. Seine Wohngegend habe er als sein „Gebiet“ angesehen, als sein „Revier“, das er „sauber halten“ müsste. Auf einer „Musikveranstaltung“ der Szene habe sich Ralf S. „wichtig gemacht“ und beeinflussbare Leute um sich gesammelt. Zu diesen Leuten habe zeitweise auch er – Marcell S. – gehört.
Im zweiten Themenkomplex an diesem Hauptverhandlungstag ging es um die Anmietung einer Wohnung in der Gerresheimer Straße 13 durch Ralf S. Hierzu befragt wurde der Sohn der damaligen Hausbesitzerin, der Wuppertaler Rechtsanwalt Carsten R. (45). R. gab an, dass seine Mutter das Haus 1999 gekauft und er ihr bei der Abwicklung geholfen habe. Ralf S., der dort bereits wohnte, habe man im November 1999 als Mieter übernommen, dieser habe – was sich aber erst später herausgestellt habe – falsche Angaben zu seinen Einkünften gemacht, sei zahlungsunfähig gewesen und letztendlich nach mehreren unbezahlten Mieten am 4. April 2000 gekündigt worden. Zudem habe es Beschwerden aus dem Haus gegeben, insbesondere von zwei älteren Mieterinnen, denen das Auftreten von S. mit Tarnklamotten und Rottweiler Angst gemacht habe. Diese hätten sich auch über eine Lärmbelästigung beschwert.
R. beschrieb S. als „sehr unterschiedlich“ in seinem Verhalten: „mal sehr freundlich, fast schon unterwürfig“, wenn es darum gegangen sei, einen Zahlungsaufschub zu erwirken und Geschichten über zeitnah eintreffende Einkünfte zu erzählen; mal als sehr bedrohlich, übergriffig und Angst einflößend. Da S. die Kündigung nicht akzeptiert habe, hätte man, so R., im August 2000 ein Räumungsurteil erstritten. Dieses habe aber nicht vollstreckt werden müssen, da S. die Wohnung Anfang September 2000 freiwillig geräumt habe. Den hinterlassenen Hausrat habe man dann entsorgt.
S. habe auf ihn, so R., den Eindruck gemacht, als ob dieser sich als „nicht wahrgenommener Held“ verstehen würde. S. habe entsprechende „Helden“-Geschichten erzählt. Aus seiner „Fremdenfeindlichkeit“ habe er kein Geheimnis gemacht, ihm sogar erzählt, dass sein Hund auf den Befehl „Asylant“ hin angreifen und beißen würde. Zudem habe ihm S. vor dem Anschlag von seiner Spreng- und Bombenbauausbildung erzählt. Darum habe er auch nach dem Anschlag eine Verbindung zwischen dem Anschlag und Ralf S. hergestellt und seinen Verdacht gemeldet. S. habe ihm nach dem Anschlag zudem berichtet, er sei ein „harter Hund“: „Aus mir kriegen die nur was mit Folter raus.“
Der dritte und letzte Themenkomplex am 3. Juli 2018 drehte sich um Zeug*innen-Aussagen zu Wahrnehmungen auf dem S-Bahnhof Wehrhahn am Tattag, und zwar zu Wahrnehmungen von am Geländer der Fußgängerbrücke oder auf gleicher Höhe in einem Baum in Geländernähe befestigten Tüten. Hierzu wurden aber von der Kammer keine Zeug*innen geladen und befragt, sondern deren Aussagen in polizeilichen Vernehmungen verlesen.
Aus der Verlesung ergab sich, dass am 27. Juli 2000 bereits um 8.00 Uhr eine in einem Baum in der Nähe des Geländers aufgehängte weiße Tüte („Frittentüte“) gesehen wurde, die eine halbe Stunde später dann wieder weg gewesen sei. In der Tüte sei eine 1,5-Liter-Colaflasche gewesen – und etwas anderes nicht Identifizierbares. Um 8.50 Uhr wurde dann eine straff nach unten hängende und am Geländer mit Kordel befestigte Tüte gesehen, die um 12.00 Uhr dort nicht mehr gehangen haben soll. Die nächste Beobachtung wurde dann um 14.15 Uhr gemacht: eine weiße, ans Geländer gebundene Tüte mit zwei Flaschen, eine davon eine 1,5-Liter-Colaflasche. In der Zeit von 15 Uhr bis zur Explosion wenige Minuten später wurde diese Tüte („Obsttüte“) von mehreren weiteren Personen gesehen, unter anderem auch von mehreren Opfern. Einige sahen auch zwischen den Flaschen einen in Zeitungspapier eingewickelten Gegenstand.
Der 32. Prozesstag am 23. Juli 2018
Der 32. Hauptverhandlungstag war zugleich der letzte Tag der Beweisaufnahme. Im Mittelpunkt stand der Zeuge Holger P., dem gegenüber Ralf S. seine Täterschaft beim Wehrhahn-Anschlag zugegeben haben soll – ebenso wie vier Jahre zuvor gegenüber dem Zeugen Andreas L. (siehe 8. Prozesstag). Bevor aber P. an der Reihe war, wurden zunächst zwei Polizeibeamt*innen – Frank P. und Michaela F. – befragt, die Holger P. Anfang Juli 2018 im Auftrag des Oberstaatsanwalts in der U-Haft aufgesucht hatten. Grund ihres Besuchs war vorrangig, die von Holger P. behaupteten Morddrohungen von Ralf S. gegen den Oberstaatsanwalt zu überprüfen und darauf aufbauend eine Gefahrenanalyse vorzunehmen. Zugleich ging es den Polizeibeamt*innen aber auch darum, P. noch einmal mit seiner Weigerung, vor Gericht auszusagen, zu konfrontieren und seine Argumente für die Aussageverweigerung zu hinterfragen. Bei ihrem Besuch vor Ort habe Holger P. dann aber durchaus seine Aussagebereitschaft signalisiert, so der Polizist Frank P., eine solche aber mit der Forderung verknüpft, eine verbindliche Zusage zu bekommen, in eine andere JVA verlegt zu werden. Zur Klärung dieser Forderung sei das Gespräch dann unterbrochen worden und nach einer Woche nach persönlicher Zusicherung der Verlegung durch den Oberstaatsanwalt fortgesetzt worden. Holger P. habe nun ausführlichst über Ralf S. bzw. über den Wehrhahn-Komplex erzählt, insgesamt habe die Vernehmung etwa dreieinhalb Stunden gedauert. Man habe ihn nicht unterbrochen, sondern „sprechen lassen“, so Frank P. Holger P. habe auf ihn ruhig, überlegt, besonnen und unhektisch gewirkt. Nach Beendigung des Gesprächs habe der Befragte das Protokoll gelesen und auf jeder Seite unterschrieben. Aus den Inhalten des Gesprächs sei keine konkrete Gefährdung für den Oberstaatsanwalt hervorgegangen. Ralf S. habe laut Holger P. geäußert, dass der Oberstaatsanwalt ein Jude sei, für das ihm Zugefügte verantwortlich sei und dafür büßen müsse. Und dass er, Ralf S., nicht nur reden würde, sondern tatsächlich etwas gegen den Oberstaatsanwalt unternehmen werde. Eine konkrete Schilderung einer Ankündigung eines Angriffs habe Holger P. aber nicht geliefert. Man habe den Eindruck gewonnen, dass Ralf S. „eher auf subtile Art und Weise“ gegen Ralf Herrenbrück vorzugehen gedachte, was sich ja auch nach seiner U-Haft-Entlassung gezeigt habe. Über das Internet habe S. Stimmung gegen den Oberstaatsanwalt gemacht, dazu aufgefordert, Informationen über ihn weiterzugeben und bekundet, eine „Propagandaphase“ bereits eingeleitet zu haben.
Hauptsächlich habe sich Holger P. , so Frank P., zum Tatvorwurf Wehrhahn-Täterschaft geäußert. Ralf S. soll Holger P. berichtet haben, den Anschlag begangen zu haben, Details zu Holger P.s Aussage seien dem Protokoll der Vernehmung zu entnehmen. Erinnerlich sei ihm, dass Holger P. berichtet habe, dass Ralf S. zu der schwangeren Frau, die beim Anschlag ihr ungeborenes Kind verlor, von einer gelungenen „Euthanasie“ gesprochen habe. Holger P. habe berichtet, dass sein Verhältnis zu Ralf S. anfangs „normal“ gewesen sei und dass S. ihn fälschlicherweise aufgrund seiner aus früheren Zeiten stammenden Tätowierungen für einen Neonazi gehalten, seine eigene neonazistische Gesinnung aber anfangs abgestritten habe. S. habe laut Holger P. einen „irrationalen Hass auf Juden“ und nach eigenen Angaben gewusst, dass „die Juden immer in die Sprachschule gingen“, das habe er von seinem Büro aus sehen können. S. habe geäußert, dass Juden gezielt nach Deutschland geschleust würden zur Unterwanderung. Sein „Auftrag und seine Pflicht als Soldat und Nationalsozialist“ sei es gewesen, dagegen vorzugehen. Es sei aber nicht so gelaufen, wie er geplant habe – mit Ausnahme der „gelungenen Euthanasie“. Ralf S. habe, so Holger P., ebenso wie er selbst, das Buch „Kleinkriegsanleitung für Jedermann“ von Major von Dach gelesen. Und er habe im Zusammenhang mit dem Prozess von einem in Krefeld lebenden „Verräter“ gesprochen, dessen Wohnadresse er kenne. S. habe in P. zeitweise einen Kameraden gesehen, dem er von seinen Heldentaten erzählte, dann aber gemerkt, dass er sich verplappert hatte. S. sei dann laut Holger P. auf Distanz gegangen und habe sogar behauptet, dass Holger P. für den Oberstaatsanwalt arbeiten würde, mit dem Auftrag, ihn (Ralf S.) zu töten. Trotz aller Beteuerungen von Holger P., dass das Unsinn sei und er sich keine Sorgen mache bräuchte, habe sich S. in diese Vorstellung hinein gesteigert und ihn auch bei den Mithäftlingen und beim JVA-Personal gemobbt. Holger P. habe berichtet, dass er dadurch zunehmend unter Druck geraten sei und letztendlich einen Suizidversuch unternommen habe, um sich aus der Situation zu befreien.
Holger P. habe Ralf S. als soziopathisch, detailversessen und extrem manipulierend beschrieben. Und dass S. sogar einen Mithäftling dazu gebracht habe, ihn (Holger P.) mit Tabletten umzubringen, was aber trotz Herzaussetzern letztendlich nicht geglückt sei. S. habe laut Holger P. unter dem Schutz des Justizvollzugsbeamten W. gestanden, mit dem er sich gut verstanden habe und den er sogar zu einem Grillabend nach seiner Entlassung eingeladen habe.
Letztendlich habe sich Holger P., so Frank P., bereit erklärt, seine Angaben vor Gericht zu wiederholen, „auch wenn es mir schwer fällt“.
Die Kriminalbeamtin Michaela F., die nach Frank P. befragt wurde, bestätigte die Angaben ihres Kollegen. Sie betonte noch einmal, dass sich Holger P. 100-prozentig sicher gewesen sei, dass Ralf S. den Oberstaatsanwalt umbringen wolle.
Als Hauptzeuge dieses Tages wurde nun der derzeit wegen Geiselnahme in U-Haft auf seinen Prozess wartende Holger P. (47) aufgerufen, der von seinem Rechtsanwalt begleitet wurde. Er berichtete, seit September 2017 inhaftiert zu sein, seit November 2017 in der JVA Düsseldorf, und ab Anfang Februar 2018 Kontakt zu Ralf S. gehabt zu haben. Man habe gemeinsam Hofgang gehabt und später auch die „Freizeit“ miteinander verbracht.
S. habe ihm gegenüber geleugnet, rechts zu sein. Ihm sei aber klar gewesen, dass das eine Lüge ist, so Holger P. Das habe er S. auch gesagt, ebenso wie, dass er das für sich behalten werde. S. habe ihm von dem Anschlag erzählt, aber zunächst seine Unschuld beteuert. Seine Ex-Freundin sei bedrängt worden, bis sie etwas von einer Bombe erzählt hätte. Und ein Ex-Mithäftling habe ihn belastet. Beim dritten oder vierten Hofgang im März habe S. sein Verhalten geändert und nicht länger geleugnet, Neonazi zu sein. S. habe ihm gegenüber geäußert, dass „eigentlich alles anders geplant“ gewesen sei: „Es sollten alle dabei drauf gehen“. Immerhin habe es aber eine „gelungene Euthanasie“ gegeben, da eine Frau ihr ungeborenes Kind verloren habe. P.: „Er sah sich als Helden, ihm würde ein Orden gebühren.“
Er, Holger P., habe Ralf S. schon vor dessen Geständnis gesagt, schon lange nichts mehr mit der extremen Rechten zu tun zu haben und dass seine rechten Tätowierungen aus lange vergangenen Zeiten stammen würden. Das habe S. aber wohl zunächst nicht geglaubt, dann aber doch den Kontakt zu ihm stark eingeschränkt und zunehmend Distanz gehalten. Auch habe Ralf S. nun erneut abgestritten, rechts zu sein. Offenbar sei ihm bewusst geworden, dass er einen Fehler gemacht habe. Er habe stattdessen in der „Freizeit“ von seiner Partnerin gesprochen, über seine Zukunftspläne, über Hunde und über den Oberstaatsanwalt, der „Jude“ sei und hinter allem stecken würde, was gegen ihn vorgebracht würde. S. habe geäußert, dass er nicht so enden wolle wie Böhnhardt und Mundlos. Und habe ihn dann beschuldigt, als Spitzel für Ralf Herrenbrück und die Polizei zu arbeiten, mit dem Auftrag, ihn (Ralf S.) zu töten. Das habe er auch den anderen Mithäftlingen erzählt.
Holger P. berichtete, dass er davon ausgegangen sei und gehofft hätte, dass Ralf S. ohne sein Zutun verurteilt würde. In den 1990er Jahren habe sein bester Freund mehrere Menschen umgebracht und sei hierfür verurteilt worden, ohne dass er gegen ihn habe aussagen müssen. Nachdem er jetzt aber im Justizkrankenhaus von der Freilassung von Ralf S. und dem zu erwartenden Freispruch erfahren habe, hätte er sich dazu durchgerungen, einem JVA-Krankenhaus-Psychologen alles zu berichten. Und für sich selbst als Gedächtnisstütze alles aufzuschreiben. Schließlich habe S. ihm auch gedroht und hätte keine Hemmungen, ihm und seiner Familie etwas anzutun. S. sei ein „absolut kalter Mensch, ohne Moral“. S. habe wiederholt „hinten rum“ allen Greifbaren in der JVA erzählt, dass er (P.) ein Spitzel sei. Auch dem JVA-Personal. Zum JVA-Abteilungsleiter W. habe S. einen guten Kontakt gehabt. Das Mobbing sei immer schlimmer geworden, er habe sich nicht dagegen wehren können: „Er [Ralf S.] hatte die fixe Idee, mich zu diskreditieren, und diesen Plan hat er stur verfolgt. An jedem verdammten Tag hat der den Leuten das erzählt, immer und immer wieder. Er hat das nicht mit Emotion gemacht, er hat dieses Ziel verfolgt. Kühl und berechnend.“
Im Folgenden berichtete Holger P. von einem für ihn nicht beweisbaren Vorfall. Nach einer „Freizeit“ sei er abends im Haftraum zusammengebrochen. Sechs Stunden lange habe er bei Herzaussetzern gedacht, er müsse sterben. Seine einzige Erklärung hierfür sei gewesen, dass ihm S. der ihm zuvor einen Kaffee besorgt hätte, etwas in das Getränk getan habe. Eventuell ein Herzmedikament, einer der von S. beeinflussten Mithäftlinge hätte ein solches nehmen müssen. Das müsste und könnte ja anhand einer Haarprobe toxikologisch untersucht werden, was aber bisher nicht geschehen sei. Um Hilfe gebeten habe er in der lebensbedrohlichen Situation aber nicht, da ohnehin vom JVA-Personal kein Notarzt gerufen und er auf den nächsten Tag vertröstet worden wäre. Am nächsten Tag sei es ihm wieder besser gegangen. S. habe überrascht gewirkt, als er ihn gesehen habe.
Auf Frage des Vorsitzenden, ob sein am 11. April 2018 begangener Suizidversuch mit Ralf S. zu tun gehabt hätte, antwortete P., dass es ihm aufgrund des ablaufenden „psychischen Films“ nicht gut gegangen sei. In Verbindung mit seinen weiteren Problemen sei ihm alles zu viel geworden. Der Suizid sei für ihn die einzige Möglichkeit gewesen, „da rauszukommen“. Seit letzter Kontakt zu S. habe drei oder vier Tage vorher stattgefunden. Er habe ihm ein „Friedensangebot“ machen und ihm signalisieren wollen: „Du musst dir keine Sorgen machen. Ich werde nichts sagen.“ S. sei aber nicht von seinem „Film“ runter zu bekommen gewesen. In genau dieser Situation sei dann noch der JVA-Abteilungsleiter W. hinzu gekommen und habe sich bei S. für eine Postkarte bedankt, was er – so P. – auch unter vier Augen hätte machen können. Dass er das nicht gemacht habe, hätte er als „Ansage an mich“ aufgefasst mit der Botschaft: „Du hast hier nichts zu sagen.“ Es sei offensichtlich gewesen, dass S. einen engen Kontakt zum JVA-Personal gehabt hätte. So habe S. beispielsweise Informationen über ihn (P.) gehabt, die er nur vom JVA-Personal habe bekommen können.
Von Seiten des Vorsitzenden wurden nun handschriftliche Aufzeichnungen von P. vom 9. April 2018
in die Beweisaufnahme eingeführt. Darin hatte P. in Sachen S. notiert: „Heute war es wieder ganz okay mit Ralf“ und „Da ich weiß, dass er gerne malt, werde ich ihm vorschlagen, dass wir mal eine Collage zusammen anfertigen.“ Auf diese erklärungsbedürftige Harmonie zwei Tage vor seinem Suizidversuch angesprochen, antwortete P., dass er davon ausgegangen sei, dass seine Aufzeichnungen regelmäßig von JVA-Bediensteten bei Haftraumdurchsuchungen gelesen würden, insbesondere von Herrn W., und er einen entspannten Eindruck habe suggerieren wollen.
Von Seiten der Verteidigung wurde Holger P. auf ein von diesem verfasstes Schreiben angesprochen. Der Wortlaut:
„Ralf, du hattest vollkommen Recht, alles ist eine große jüdische Verschwörung gegen DICH. Der StA hat mich beauftragt dich zu töten, wie du richtig vermutet hast. [...] Doch Vorsicht, hier ist noch einer auf Dich angesetzt. Wenn DU nicht gestehst, dann wird Deine Verlobte getötet. Dein Mörder steht dir näher als du Du glaubst.
Holger
PS: Nelson sagt ‚Ha, Ha!!!‘“
Holger P. erläuterte, dieses Schreiben kurz vor seinem Suizidversuch in seinem Haftraum geschrieben zu haben, um S.‘ Paranoia zu bedienen. Nachdem sein Suizidversuch gescheitert sei, habe er ihn aber nicht eingesetzt, sondern in seine Unterlagen gepackt.
Als letzter Zeuge in der Beweisaufnahme des Wehrhahn-Prozess wurde der kurzfristig geladene, mehrfach von Holger P. erwähnte Wolfgang W. (61), Justizvollzugsbeamter der JVA Düsseldorf und Leiter des verstärkt gesicherten Haftbereichs, befragt. Dieser bestätigte, dass bei Haftraumkontrollen gefundene Briefe durchaus hin und wieder geprüft würden, allerdings keine Verteidigerpost. Bei P. seien nach dem Suizidversuch Unterlagen beschlagnahmt worden, die Verteidigerpost sei ungelesen an seinen Verteidiger weitergeleitet worden. Über den Inhalt der übrigen Unterlagen/Post habe er Stillschweigen bewahrt. Nach der Entlassung von Ralf S. habe ihn dieser einmal angerufen, um zu fragen, ob es Videoaufnahmen des Freizeitbereichs in der JVA geben würde. S. habe dabei auch den Namen Holger P. erwähnt. Er (Wolfgang W.) habe diese Frage aber nicht beantwortet, da alle Sicherheitsmaßnahmen geheim seien. S. habe bei diesem Telefonat auch davor gewarnt, dass Holger P. möglicherweise eine weitere Geiselnahme plane.
S. sei in der JVA wie jeder andere auch behandelt worden, so Wolfgang W. Es sei aber nicht unüblich, dass Häftlinge einen „Lieblingsbeamten“ hätten, bei dem sie sich erhoffen würden oder die Erfahrung gemacht hätten, von diesen bevorteilt zu werden. Etwaiges manipulatives Verhalten durch Häftlinge sei innerhalb des Personalkreises im Haftbereich aber ständig thematisiert und problematisiert worden. S. beispielsweise sei täglich Thema gewesen. Es könne tatsächlich sein, dass Ralf S. ihm gegenüber einmal eine Einladung zu einem Grillabend ausgesprochen habe. Ralf S. habe im Gegensatz zu Holger P. viel geredet, beispielsweise über seine Zukunftspläne. Auf Frage der Verteidigung gab W. an, dass die medizinische Versorgung in der JVA rund um die Uhr gewährleistet sei.
Am Ende des Verhandlungstages sprach der Vorsitzende noch einmal Ralf S. direkt auf Holger P. und die gemeinsame Haftzeit an. S. stellte Holger P. als drogenabhängigen Sonderling („komisch“) mit Gewaltfantasien und als Islamist dar. Auseinandersetzungen habe er aber mit ihm nicht gehabt, zumal er nur wenig Zeit mit ihm verbracht habe. Klar habe er mit P. auch bisweilen über sein Verfahren gesprochen und sich hier und da über den Oberstaatsanwalt aufgeregt – schließlich würde dieser ihm ständig „in die Fresse treten“. Keinesfalls aber habe er Drohungen oder gar Mordabsichten geäußert. Er habe auch nicht schlecht über P. gesprochen. Und mit dem „beknackten Anschlag“ habe er sowieso nichts zu tun.