Beide am 5. Februar 2018 als Zeugen befragten Polizeibeamten bekundeten, sich kaum noch an das Geschehen Ende Juli, Anfang August 2000 erinnern zu können. Aus diesem Grund hatten sie im Vorfeld ihrer Zeugenaussagen darum gebeten, ihre damaligen Protokolle und Aktennotizen einsehen zu dürfen. Das Gericht gestattete den Zeugen diese Erinnerungshilfe – verbunden mit der Bitte, bei ihren Aussagen jeweils in der Hauptverhandlung kenntlich zu machen, welche Aspekte und Details ihrer Aussagen ihrer Erinnerung entspringen und an was sie sich nur nach der Lektüre der damals angefertigten Unterlagen erinnern würden.
Beide Zeugen – der zwischenzeitlich pensionierte ehemalige Polizeibeamte Gerwin F. und sein damaliger Kollege Frank S. – waren im Jahr 2000 beim Polizeilichen Staatsschutz in Düsseldorf und ab August 2000 in der „EK Acker“ tätig.
Gerwin F. sagte aus, an der ersten Vernehmung von Ralf S. am 29. Juli 2000 teilgenommen zu haben, nicht aber an deren Fortsetzung am 31. Juli 2000. Er und ein weiterer Kollege hätten sich zunächst nach einem „Hinweis aus der Bevölkerung“ mit dem „sehr kooperativen“ und „nicht widerspenstigen“ Ralf S. auf der Gerresheimer Straße verabredet. Anschließend hätten sie etwa 45 bis 60 Minuten lang dessen Privatwohnung und Laden durchsucht. Gerwin F. sagte aus: Die Wohnung sei „unbeschreiblich schmutzig“ gewesen. Man habe „leere Patronenhülsen“ gefunden, aber keine Bauanleitungen und auch keine „rechtsradikale Symbolik“. Es hätten „allgemeinbildende Broschüren“ herum gelegen, aber nur „gemäßigte“, die „nicht strafrechtlich relevant“ gewesen seien. S. habe der „Deutschen Volksunion“ (DVU) nahe gestanden. Anschließend seien sie dann in das Ladenlokal gegangen. Da dort der Strom abgestellt und es dunkel gewesen sei, habe man S. gebeten, die Rollläden hochzuziehen. Man habe „nichts von Bedeutung“ gefunden. Auf Nachfragen des Vorsitzenden Richters und des Oberstaatsanwaltes nach der Gründlichkeit der Durchsuchung bekundete F., man sei „durchgegangen“ und habe sich in den Objekten „umgesehen“, den Möglichkeiten entsprechend gründlich. Gerwin F. betonte hierzu auf Nachfrage, dass die Lichtverhältnisse ausreichend gewesen seien. Eine wirklich intensive Durchsuchung sei aber zu zweit nicht zu schaffen gewesen. Gemeinsam mit S. sei man dann, nach Ende der Durchsuchungen, zur Vernehmung ins Polizeipräsidium gefahren. S., der ihm vor dem Anschlag nicht bekannt gewesen sei, habe sich auch hierbei sehr kooperativ und freundlich gezeigt. Insgesamt habe die Vernehmung in einem höflichen und entspannten Klima stattgefunden. Als es in der Befragung dann aber darum gegangen sei, was Ralf S. am 27. Juli 2000 um die Tatzeit herum gemacht habe, hätte S. bekundet, nach Hause zu müssen, um nach seinem Hund und seiner laufenden Waschmaschine zu sehen. Damit war die erste Vernehmung beendet.
Aufgefallen sei ihm später noch, so F., dass Ralf S. damals angegeben hatte, am Tattag kurz vor dem Anschlag ohne seinen Hund unterwegs gewesen zu sein. Normalerweise würde er seinen Hund immer mitnehmen.
Auf Frage des Richters ergänzte F., dass er seinerzeit auch einen Polizeikollegen befragt habe. Dieser hätte gemeldet, Ralf S. am Abend des Tattages gegen 20.15 / 20.30 Uhr zufällig an einer Telefonzelle (Adlerstraße Ecke Schirmerstraße) angetroffen zu haben. Der Kollege habe sich daran erinnert, dass er S. an der Telefonzelle angesprochen habe, da dessen Hund keinen Maulkorb getragen hätte. Weiter hätte der Kollege ihm damals zur Kenntnis gegeben, dass Ralf S. nach dem Gespräch in die Telefonzelle hinein gegangen sei. Ob er von dort dann tatsächlich telefoniert habe, habe der Kollege aber nicht gesehen. [siehe hierzu den Bericht über den 1. Prozesstag, Thema Drohanruf]
Der zweite polizeiliche Zeuge am 5. Februar 2018, Frank S., führte am 31. Juli 2000 gemeinsam mit einem wiederum weiteren Kollegen die Fortsetzung der Vernehmung vom 29. Juli 2000 durch. Ralf S. sei sich letztendlich nicht sicher gewesen, ob er zum Tatzeitpunkt in seiner Wohnung gewesen sei und telefoniert habe. Er habe mehrfach bekundet, dass man dies ja an seiner Telefonrechnung feststellen könnte. Ralf S. habe ausgesagt, den Knall der Bombe nicht gehört zu haben. Auf die Frage, wie sein Hund auf den Knall reagiert hätte, habe S. geantwortet: Das wisse er nicht, dieser sei ja zu Hause gewesen. Daraus habe er – Frank S. – geschlossen, dass Ralf S. zum Tatzeitpunkt nicht zu Hause gewesen sei.
Auf seine politische Einstellung angesprochen, habe sich Ralf S. im rechten Spektrum verortet. Gegen „Ausländer“ hätte er aber nichts. Ralf S. habe in der Befragung damals angegeben, sogar „einen farbigen Kollegen" und einen „israelischen Auftraggeber“ zu haben. Ralf S. hätte sich wie folgt beschrieben: Er sei „national“ eingestellt, aber „nicht so wie Sven Skoda“, der hin und wieder mal auf einen Kaffee bei ihm vorbei käme und ihn auch vor „der Antifa“ gewarnt habe.
Bei der nächsten Vernehmung am 2. August 2000 habe Ralf S. dann eine Anwältin dabei gehabt und nichts mehr ausgesagt.
Auf Frage des Oberstaatsanwalts berichtete Frank S., dass Ralf S. später eine Beschwerde gegen ihn eingereicht habe. Aus der Verlesung von Auszügen dieser Beschwerde ging hervor, dass Ralf S. dem Polizeibeamten Frank S. vorgeworfen hatte, ihn massiv unter Druck gesetzt und ihm gedroht zu haben. Frank S. bekundete, dass dies nicht der Wahrheit entsprechen würde.
Nach einer Mittagspause wurde dann am 5. Februar noch die Sozialarbeiterin befragt, deren Hilfe Ralf S. während einer Ersatzfreiheitsstrafe 2014 in der JVA Castrop-Rauxel in Anspruch genommen hatte. Vor Gericht hatte S. in seiner Einlassung bereits beschrieben, die Sozialarbeiterin während seiner Haftzeit um Unterstützung gebeten zu haben. Sowohl in Familienangelegenheiten als auch zu der Frage, wie er die Haftstrafe durch Begleichung der Bußgeldstrafe hätte beenden können. Außerdem, so hatte Ralf S. es dem Gericht wiederholt geschildert, habe er die Sozialarbeiterin auch auf das Thema „Wehrhahn-Anschlag“ angesprochen, um einen Umgang mit der in seinen Augen ungerechten medialen Stigmatisierung als angeblicher Wehrhahn-Attentäter zu finden. Ralf S. hatte in den vergangenen Hauptverhandlungstagen mehrfach betont, dass diese „Sache“, in den Ermittlungen zum Anschlag vom S-Bahnhof Wehrhahn als Beschuldigter geführt worden zu sein, ihm seit dem Jahr 2000 vieles zerstört und ihn behindert hätte – beruflich und auch privat.
Die Zeugin konnte sich an Ralf S. erinnern. Zeitweise habe er sie während seiner Haftzeit in Castrop-Rauxel – von Ende April bis Anfang Juni 2014 – sogar täglich aufgesucht, um mit ihr in ihrer Eigenschaft als zuständige Sozialarbeiterin über die Aussetzung seiner Haftstrafe und das ihm entzogene Sorgerecht für seine drei Kinder zu sprechen. Über den Wehrhahn-Anschlag habe Ralf S. mit ihr aber nie gesprochen. S. habe ihr nichts davon erzählt, weder von dem Anschlag als solchem, noch davon, dass gegen ihn ermittelt worden sei. Ralf S. habe dieses Thema zu keinem Zeitpunkt angeschnitten und ihr auch keine Unterlagen dazu gezeigt.
Im Juni 2014, so die Sozialarbeiterin, sei Ralf S. dann aus dem (nach innen) offenen Vollzug der JVA Castrop-Rauxel in den geschlossenen Vollzug der JVA Essen verlegt worden, da er permanent gegen Absprachen und Regeln verstoßen und zudem seine Ex-Ehefrau telefonisch bedroht habe.
Der 5. Prozesstag am 8. Februar 2018
Aufgrund der Schließung des Gerichts um 12 Uhr war für den 8. Februar nur ein einziger Zeuge vorgeladen worden: Herr K., Mitarbeiter der „Tatortgruppe Sprengstoff/Brand, Entschärfung“ beim Landeskriminalamtes (LKA) und seit 2015 Behördengutachter des LKA. K. war auch an der Stellungnahme der „Operativen Fallanalyse“ des LKA zum Wehrhahn-Täter-Profil beteiligt. Beantworten sollte er vor Gericht Fragen zum eingesetzten Sprengsatz, zum Zugang zu den hierbei verwendeten Bauteilen und zu den seiner Expertise nach notwendigen Fertigkeiten, die es bräuchte, um einen solchen Sprengsatz herzustellen.
K. konnte hierbei auf drei Gutachten zurückgreifen: eines der „Wehrtechnischen Dienststelle für Waffen und Munition 91“ (WTD 91) in Meppen, eines des „Mannesmann Forschungsinstituts“ (MFI) und eines des LKA. Der sachverständige Zeuge wurde vor Gericht um Beschreibung dieser Gutachten gebeten. Hier erläuterte der Polizeibeamte K. vor allem Details zur Bearbeitung des Metalls des Bombenkörpers und zu dessen Materialeigenschaften. In den Gutachten seien etwa zwei unterschiedliche Möglichkeiten skizziert worden, wie der aus einem Rohrstück bestehende Bombenkörper geschweißt worden sei. Die WTD 91 spräche von einem autogenen Schweißverfahren, das MFI von einem Schutzgasschweißverfahren. In jedem Fall sei die Schweißarbeit als „laienhaft“ zu beschreiben. Zur Herkunft des Materials läge die Beobachtung vor, dass es sich um ein Metallrohr nach „westlicher Norm“ gehandelt habe. Ein anderes Gutachten spreche von einer osteuropäischen Legierung.
Neben den Gutachten lagen dem Polizeibeamten K. für seine Expertise im Rahmen der Operativen Fallanalyse außerdem Asservatenverzeichnisse aus Düsseldorf und Köln sowie Fotos der Asservate vor. Einige von diesen Fotos wurden zur Erläuterung und für Rückfragen in Augenschein genommen.
Nach seiner Erkenntnis, so führte der Zeuge im Verlauf der Befragung aus, habe es sich bei dem Sprengsatz um eine Rohrbombe gehandelt, bestehend vor allem aus einem Metallrohr, dem darin eingefüllten Sprengstoff und einem Zündmechnismus. Als Sprengstoff seien 250 bis 300 Gramm TNT in dieses Rohrstück gefüllt worden, mit einer Verunreinigung von 1,7 Prozent TNB. Eine solche Verunreinigung könne durch eine unsachgemäße Lagerung (zum Beispiel chemische Reaktion durch Lichteinstrahlung) verursacht worden sein. Sicher habe sie zu einer trägeren Reaktion, also zu einer deutlichen Verringerung der Explosionskraft geführt. Der Zeuge schloss auf Nachfrage der Oberstaatsanwaltschaft nicht aus, dass das TNT mehreren Handgranaten entnommen worden sein könnte. In einer Handgranate, die leicht zu öffnen sei, befänden sich in der Regel etwa 100 Gramm Sprengstoff. Allerdings würden deutsche Handgranaten schon sehr lange nicht mehr mit TNT bestückt werden – im Gegensatz beispielsweise zu russischen. Eine Handgranate, so berichtete der Zeuge auf weitere Nachfrage durch Oberstaatsanwalt Ralf Herrenbrück, habe auf eine Entfernung von etwa 9 Metern tödliche Wirkung, bis 30 Meter Entfernung seien Verletzungen zu erwarten. Erst in einer Entfernung ab 50 Metern könne man von einem „Sicherheitsbereich“ sprechen. Es ließe sich nun aber nicht davon ausgehen, dass die beim Wehrhahn-Anschlag genutzte Bombe – in der etwa die dreifache Menge an Sprengstoff wie in einer Handgranate gewesen sein könnte – eine drei Mal so hohe Sprengwirkung wie eine Handgranate gehabt habe. Hier müsse insbesondere die Verunreinigung des TNT bedacht werden.
Der Mantel der Bombe – besagtes Rohrstück – sei manuell vorfragmentiert gewesen. Es seien also außen – ebenso laienhaft – mit handelsüblichen Schneid- und Schleifwerkzeugen Rillen bzw. Kerbungen eingefräst worden, um die Splitterwirkung auf „weiche Ziele“ zu vergrößern, ähnlich wie bei Handgranaten.
TNT könne grundsätzlich nur durch einen „Initialschlag“ zur Explosion gebracht werden, herbeigeführt durch eine/n am bzw. im Sprengsatz angebrachte/n Sprengzünder bzw. Sprengkapsel. Auch bei dem Sprengsatz vom Wehrhahn-Anschlag werde dies so gewesen sein. Der Zeuge erläuterte im weiteren Verlauf der Vernehmung, wie die Zündung einer TNT-Bombe ausgelöst werden könne und welche der Auslöse-Mechanismen für den Tathergang vom 27. Juli 2000 in Betracht gezogen werden können. Für wahrscheinlich sei anzunehmen, dass der „Initialschlag“ bzw. der Sprengzünder durch einen Funkkontakt aktiviert worden sei. Eine Fernzündung über ein Handy bzw. über einen UMTS-Sender (wie die Operative Fallanalyse es u.a. in einer ihrer Hypothesen zum Ablauf der Sprengung vorgestellt hatte) sei wegen der Zeitverzögerung durch den Aufbau einer Verbindung nach seinem Dafürhalten eher unwahrscheinlich. Eine mechanische Aktivierung sei nahezu auszuschließen, erläuterte der sachverständige Zeuge dem Gericht. Für ihn sei es gut vorstellbar, dass es sich um eine Funkfernsteuerung aus dem Modellbau gehandelt habe, ähnlich der Zündung, wie sie bei dem Anschlag auf der Kölner Keupstraße [vom 9.6.2004] an dem Sprengsatz der Nagelbombe angebracht gewesen sei. Dort habe es sich allerdings um einen deutlich professionellen Sprengsatz gehandelt. Das sei eigentlich nicht zu vergleichen, so K.
Zudem wies der LKA-Experte darauf hin, dass TNT zwar leicht ohne Explosionsgefahr zu handhaben sei, zum Transport des fertigen Sprengsatzes aber eigentlich eine Transportsicherung nötig gewesen sei, um nicht Gefahr zu laufen, dass die Bombe – unbeabsichtigt aktiviert, zum Beispiel durch den Taxifunk – vorzeitig explodiert.
Vor dem Hintergrund, dass bei einer zweiten Hausdurchsuchung bei Ralf S. Anfang August 2000 „Technische Informationen“ zu einem elektronischen Zünder der Firma „Dynamit Nobel“ gefunden wurden (siehe den Bericht zum 3. Prozesstag), fragte der Vorsitzende Richter den Zeugen, ob ein solcher Sprengzünder für den Wehrhahn-Anschlag in Frage gekommen wäre. K. antwortete, dass ein Einsatz zu diesem Zweck durchaus möglich sei.
Die Verteidigung des Angeklagten sprach den Zeugen auf zwei Punkte an. Zum einen auf die sich teilweise widersprechenden Ergebnisse der Gutachten. Zum anderen wurde noch einmal nach einem Detail aus der Operativen Fallanalyse gefragt. Darin sei die Rede von einer „Werkstatt“, die nach Dafürhalten der Operativen Fallanalyse für die Herstellung der Bombe wichtig gewesen sei. Hier antwortete der LKA-Experte klar, dass mit dem Begriff „Werkstatt“ nicht etwa eine besondere Räumlichkeit oder Ausrüstung gemeint gewesen sei. Alltägliches Werkzeug sei ausreichend für den Bau der Bombe. Sie ließe sich jedoch eher schlecht in Räumlichkeiten bauen, in denen sich auch nicht Tatwillige aufhalten würden. Es reiche aber ein ganz normaler Raum.
Der Prozess wird am 16. Februar 2018 fortgesetzt, Beginn ist ausnahmsweise bereits um 9.00 Uhr.